Scrooge der Geizhals

(Eine Weihnachtsgeschichte)

Weihnachts-Workshop nach Charles Dickens für Kinder und Jugendliche von 6-12 Jahren

England in der Mitte des 19.Jhdts. - Es ist Dezember, genauer gesagt: der 24.Dezember.  Noch gibt es den schweren und dicken Nebel, den so genannten "Smog", in Londons Straßen. Aber schon damals eilen die Menschen - vielleicht nicht ganz so hektisch wie heute - von Geschäft zu Geschäft, um ihre letzten Weihnachtseinkäufe zu besorgen. Für den alten und geizigen Ebenezer Scrooge ist Weihnachten allerdings nur Humbug. Auch den diesjährigen Heiligen Abend wird er - wie schon seit Jahren - in selbst gewählter Einsamkeit verbringen: unzufrieden mit sich und der Welt! So begibt er sich vom Kontor seines Geschäftes über die verschneiten Straßen der Stadt in seine Wohnung.....  - Charles Dickens Erzählung von dem Geizhals, der in der Heiligen Nacht durch die Erscheinung der Geister der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht geläutert wird und sich in einen Wohltäter der Menschheit verwandelt, gehört seit ihrem ersten Erscheinen (1843) bis zum heutigen Tag zu den schönsten und ergreifendsten Weihnachtserzählungen der Weltliteratur. 

In unserem Workshop wollen wir die Kinder durch ihr Spiel in die poetische Atmosphäre der Erzählung hineinversetzen, sie in andere Menschen, in Geister, ja sogar in Requisiten verwandeln - hinter allem die Frage: "Was ist Weihnachten?" bzw. "Was kann es sein?"  Die Kinder gestalten die tragenden Rollen wie den geizigen Scrooge, seinen Schreiber Bob Cratchit samt Familie, seinen Neffen Alfred - vor allem aber die drei Geister, die zwecks Besserung seines verkrusteten Ichs sauf den Plan gerufen werden, oder auch das Gespenst seines früheren Geschäftspartners Jacob Marley. Die entscheidenden Abschnitte werden in kleinen Dialogszenen gespielt - dazu gibt es Musik von Bach bis Mozart, vor allem aber jede Menge bekannter Weihnachtslieder, die wir gemeinsam singen wollen.

Der Inhalt der Erzählung

Charles Dickens hat seine Erzählung  -  Originaltitel "A Christmas Carol in Prose, Being a Ghost Story of Christmas" (deutsch: "Ein Weinhnachtslied in Prosa, oder Eine Geistergeschichte zum Christfest")  -  entsprechend der Unterteilung eines Liedes in 5 Strophen gegliedert.

Strophe I: Marley's Geist

Die Geschichte beginnt mit der simplen Feststellung, Marley sei tot. Der Leser wird darüber aufgeklärt, dass Jacob Marley der Geschäftspartner, Weggefährte und einzige Freund des Protagonisten Ebenezer Scrooge war, bis er vor sieben Jahren am Weihnachtsabend verstarb. Dickens beschreibt Scrooge als Menschen, der voller Kälte ist und überall Kälte verbreitet, als enorm geizig und habgierig. Nach Marley's Tod ist er der alleinige Inhaber des Warenhauses "Scrooge & Marley" und unterhält einen Angestellten, Bob Cratchit.

Wie jedes Jahr besucht Scrooge's Neffe Alfred seinen Onkel, um ihn zum Weihnachtsessen einzuladen und ihm "Merry Christmas!" zu wünschen. Scrooge lehnt sowohl die Einladung als auch die guten Wünsche und sogar Weihnachten selbst ab. Am selben Abend besuchen ihn  zwei Gentlemen, die um Spenden für die arme Bevölkerung bitten. Scrooge lässt sich nicht erweichen, er fragt rhetorisch, ob es denn keine Gefängnisse und Armenhäuser gäbe, und ist sich sicher, mit der Bezahlung seiner Steuern seine Pflicht mehr als erfüllt zu haben.

Scrooge und Bob Cratchit bei der Arbeit

Am Abend begibt sich Scrooge nach Hause. Als er die Tür öffnen will, sieht er kurz das Antlitz seines verstorbenen Freundes Marley auf dem Türklopfer, will es aber nicht glauben. Im Haus scheint alles normal, bis ihm der Geist Marley's erscheint. Der Geist ist kettenbehangen und erklärt, er habe sich im Laufe seines Lebens diese Kette selbst geschmiedet. Weil er sich zeitlebens nur seiner Gier nach Geld hingegeben hatte, muss er nun - nach seinem Tode - als Geist unter den Menschen wandeln. Er weist Scrooge darauf hin, dass dieser ebenfalls eine solche Kette habe; beide Ketten seien vor sieben Jahren von derselben Länge gewesen, seit damals aber sei Scrooge's Kette um einiges gewachsen. Der Geist verlässt den aufgewühlten Scrooge mit dem Hinweis, dass ihn noch drei weitere Geister besuchen würden, um ihn  zu retten.

Der kettenbehangene Geist Jacob Marley's

Strophe II: Der erste Geist

Nachdem Scrooge mitten in der Nacht aufgewacht ist, erscheint ihm der erste der drei Geister. Dickens berschreibt ihn als eine komische Figur, Kind und Greis zugleich. Mit weicher Stimme stellt er sich als "Geist der vergangenen Weihnacht" vor. Er führt Scrooge durch seine Vergangenheit, angefangen beim kleinen Scrooge, der schon in seiner Kindheit keine Freunde hatte, und zu Weihnachten, von seiner Familie verstoßen, in der Schule saß, um Kinderbücher zu lesen. Scrooge zeigt sich berührt von den Szenen seiner Kindheit

Scrooge mit dem Geist der vergangenen Weihnacht

Der weitere Weg durch Scrooge's Weihnachtsvergangenheit zeigt ihn als jungen Mann, der bei Mr.Fezziwig, einem Kaffeehausbesitzer, seinen späteren Beruf erlernte. Scrooge und der Geist wohnen einer Betriebs-Weihnachtsfeier bei, die deutlich macht, mit wie wenigen (finanziellen) Anstrengungen Menschen sehr glücklich zu machen sind.

Weihnachts-Betriebsfeier bei Mr.Fezziwig ("Jingle Bells")

Eine weitere Station auf der Reise ist Scrooge in den besten Jahren, als er seine große Liebe Bella gegen die Liebe zum Geld eintauschte. Scrooge erscheint in Anwesenheit des Geistes regelrecht erschüttert, er möchte nichts mehr von der Vergangenheit sehen. Trotzdem zeigt ihm der Geist eine weitere Szene: seine frühere Verlobte in einer idyllischen Weihnachtsszene mit Kindern und Ehemann. Scrooge gelangt gebrochen wieder nach Hause und fällt in den Schlaf.

Strophe III: Der zweite Geist

Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht fordert Scrooge zum Trinken auf

Jetzt besucht der zweite der drei Geister Scrooge. Er nennt sich "Geist der gegenwärtigen Weihnacht" und stellt klar, dass es bereits über 1800 seinesgleichen gegeben hat - gemeint ist, dass es jedes Jahr seit Christi Geburt einen neuen "Weihnachtsgeist" gäbe (Unser Geschichte spielt ja in der Mitte des 19.Jhdts.). Er nimmt Scrooge mit auf eine Rundreise durch die Straßen Londons, wo sie die weihnachtliche Atmosphäre erleben. Erst jetzt lernt Scrooge seinen Schreiber Bob Cratchit und dessen Familie näher kennen. Bob und seine Frau haben einige Kinder, wobei eines besonders hervorgehoben wird: der verkrüppelte Tim ist sehr klein und kann sich auf Grund seiner Behinderung nur mit einer Krücke fortbewegen. Es hat den Anschein, dass er wegen Mangelernährung und schlechter medizinischer Versorgung bald sterben wird. Hier wird eine echte Veränderung in Scrooge's Charakter deutlich. Auf seine Frage, ob Tim noch eine Zeit zu leben vergönnt sei, bekundert der Geist seine Zweifel. Die Cratchits feiern trotz ihrer Armut ein schönes Weihnachtsfest und Bob stößt sogar auf seinen Arbeitgeber an - schließlich ist ja Weihnachten!

Weihnachten bei Bob Cratchit und seiner Familie

Mit dem Geist erlebt Scrooge eine weitere Weihnachtsszene, diesmal bei seinem Neffen Alfred, der in geselliger Runde seinen Spaß hat, über den verbohrten Scrooge zu erzählen. Nach dem Essen spielt die Gesellschaft Spiele. - Die dritte Strophe endet höchst symbolträchtig. Der Geist überlässt Scrooge zwei Kinder, die er bis dahin unter seinem Umhang versteckt hielt. Die Namen der beiden weisen bereits in eine bestimmte Richtung: sie heißen "Unwissenheit" und "Mangel". Auf Scrooge's Nachfrage erklärt der Geist, dass es nicht seine eigenen, sondern Kinder der Menschheit seien.

Strophe IV: Der letzte Geist

Der dritte Geist erscheint, ohne ein einziges Wort zu sagen. Der Schluss, dass es sich um den "Geist der zukünftigen Weihnacht" handelt, bleibt Scrooge überlassen. Der Geist führt ihn wieder durch die Straßen Londons. Die beiden lauschen einem Gespräch zweier Geschäftsmänner, die über den Tod eines namentlich nicht genannten Geschäftspartners sprechen. Auch bei einem anderen Gespräch geht es um den "alten Knauser", der gestorben sei. Dem Leser ist längst klar, dass es sich nur um den verstorbenen Scrooge handeln kann - er selbst ist jedoch ahnungslos oder will es nicht wahrhaben. Er hofft, mit dem Geist eine Szene in der Zukunft zu sehen, in der er - nunmehr zum guten Menschen bekehrt - etwas Gutes bewirkt.

Der Geist der vergangenen Weihnacht führt Scrooge auf den Friedhof

Stattdessen führt ihn der Geist in das Armenviertel der Stadt - in ein Geschäft, dessen Eigentümer jedwede Waren aufkauft. Einige Menschen haben sich bei "Old Joe" eingefunden - und es wird schnell deutlich, dass sie ihm Waren verkaufen wollen, die sie aus dem Haus des mysteriösen Mannes gestohlen haben. Nicht einer der Anwesenden zeigt Schuldgefühle. Überdeutlich wird klar gemacht, wie unbeliebt der Tote gewesen sein muss. Scrooge fleht den Geist an, er möge ihm doch einen Menschen zeigen, der Emotionen wegen des toten Mannes zum Ausdruck bringt. Alles, was er daraufhin sieht, ist ein Paar, das sich Sorgen um einen noch nicht an den Toten zurückgezahlten Kredit macht und nun sichtlich erleichtert ist. Das wollte Scrooge natürlich nicht sehen - aber auch die folgende Szene soll ihn mehr aufwühlen als beruhigen: Scrooge und der Geist besuchen die Familie Cratchit, die um den verstorbenen kleinen Tim trauert.

Zuletzt werden alle Unklarheiten aus dem Weg geräumt. Auf Scrooge's Wunsch, endlich zu erfahren, wer der Verstorbene sei, zeigt ihm der Geist einen Grabstein. Voller Entsetzen liest Scrooge seinen eigenen Namen und bricht zusammen. Der Geist verschwindet in einem Bettpfosten - und zwar in Scrooge's eigenem Bettpfosten.

Strophe V: Das Ende

Völlig verwandelt und voller guter Vorsätze steht Scrooge wieder in der realen Welt - ohne Geister und quicklebendig. Er schafft es sogar zu lachen. Von einem Jungen erfährt er, dass Christtag ist - dass also alles Vergangene in der einen letzten Nacht passiert sein musste. Er beauftragt den Jungen, einen Truthahn zu kaufen, der doppelt so groß wie der kleine Tim sei, und ihn der Familie seines Schreibers zukommen zu lassen. Die nächsten Handlungen des verwandelten Scrooge sind eine Entschuldigung bei den beiden Gentlemen, welchen er eine großzügige Spende zukommen lässt, und schließlich nimmt er die Einladung seines Neffen an, den Weihnachtstag mit ihm und Freunden zu feiern  -  und alle freuen sich über Scrooge's Anwesenheit.

"Fröhliche Weihnachten, Bob!"

Tags darauf ist Scrooge schon sehr früh in seinem Geschäft - mit der Absicht, Bob Cratchit beim Zuspätkommen zu überraschen.  Er erlaubt sich natürlich nur einen Scherz: nachdem er seinen Schreiber zusammengestaucht hat, kommt das erlösende "Fröhliche Weihnachten, Bob!" und er erhöht dessen Gehalt.

"Tim, der nicht starb, hatte an ihm einen zweiten Vater. Er wurde ein so guter Freund, Arbeitsherr und Mensch, wie man ihn nur in der guten alten Stadt, einem Städtchen oder Flecken in der guten alten Welt zu finden vermochte. .... Man sagte ihm stets nach, dass er wisse, wie man Weihnachten feiern müsse, wenn überhaupt ein lebender Mensch dieses Wissen besitze."

Charles Dickens - Leben und Werk 

Charles Dickens wurde am 7.Februar 1812 in Landport bei Portsmouth (England) als zweites von acht Kindern des Büroangestellten John Dickens (1786-1851) und seiner Frau Elisabeth (1789-1863) geboren. Die Familie zog später nach Kent und ließ sich 1822 in Camden Town (London) nieder. Auf Grund von finanziellen Problem - verursacht durch die höheren Lebenshaltungskosten - landete der Vater im Schuldgefängnis, wohin auch die Mutter mit den sieben Geschwistern zog. Charles war also genötigt, allein für den Unterhalt der Familie zu sorgen - er arbeitete zeitweilig in einer Lagerhalle und einer Fabrik für Schuhpolitur. Diese Kindheitserfahrungen sind in seine späteren Romane eingeflossen. 1827 wurde er Schreiber bei einem Rechtsanwalt, konnte Menschentypen studieren und gleichzeitig im Britischen Museum literarische Studien betreiben. 1830 lernte er Maria Boadnell kennen. Die Eltern des Mädchens missbilligten die Verbindung und schickten es auf eine Pariser Mädchenschule. Das enttäuschende Ende seiner ersten Liebesbeziehung gab Dickens die Ambition nach gesellschaftlichem Aufstieg. 1836 heiratete er Catherine Hogarth (1816-79), von der er sich 1858 trennte. Das Ehepaar hatte zehn Kinder.

Dickens arbeitete seit 1831 für die Zeitung "True Sun", wurde aber bald zur Mitredaktion des Parlamentsspiegels herangezogen und wechselte schließlich zum "Morning Chronicle". Sein erster Roman, die in monatlichen Fortsetzungsheften 1836-37 erschienenen "Pickwick Papers", machte ihn über Nacht berühmt. Er entwickelte in diesem Werk eine ursprüngliche Erzählkraft, die in sich selbst und dem reichen Volksleben, besonders der unteren Klassen, ihre Quelle und ihr Muster fand. Dickens wollte nicht nur den literarischen Erfolg, er wollte auch das Gewissen seiner Zeit wachrütteln. Die Schärfe der Anschauung, gepaart mit Humor, schafft die typische Dickens'sche Atmosphäre. 1837 erschien "Oliver Twist". Dickens wurde Herausgeber der großen liberalen Tageszeitung "Daily News" und der Zeitschrift "Household Words". Mittlerweile waren seine Werke auch in Amerika erfolgreich. Ein Auftritt 1842 als Vorleser seiner eigenen Werke endete jedoch für den Dichter enttäuschend, da er eine offene, republikanische und tolerante Gesellschaft erwartet hatte und stattdessen auch hier Standesunterschiede, Klassendenken und sogar Sklaverei antraf.

Mit den Einnahmen aus seiner 1843 erschienenen "Weihnachtsgeschichte" ("A Christmas Carol") und anderen Weihnachtserzählungen ("Die Glocken", "Das Heimchen am Herd", "Der Kampf des Lebens" u.a.) sowie seinem 1849 veröffentlichten Roman  "David Copperfield" - Werke, in denen er ebenfalls soziale Reformen einforderte - konnte er 1856 den Landsitz Gad's Hill in Rochester erwerben. 1858, nach der Trennung von seiner Frau, machte er seine erste Lesereise durch England. Am 9.Juni 1865 überlebte Dickens ein schweres Bahnunglück in Staplehurst (Kent), das er zwar körperlich unversehrt überstand, von dem er aber für den Rest seines Lebens im Geiste verfolgt wurde. In der Erzählung "The Signal Man", die allerdings auf dem Eisenbahnunglück im Clayton Tunnel (1861; 23 Tote und 176 Verwundete) basiert,  hat er den Versuch unternommen, das Erlebnis zu verarbeiten. Seine letzten Lesereisen führten ihn nach Amerika und durch England. 1869 erlitt er während einer Lesung einen Schlaganfall. Ein zweiter am 9.Juni 1870  führte zu seinem frühen Tod. Die Beisetzung erfolgte in der "Poet's Corner" der Westminster Abbey.

Charles Dickens zählt zu den am meisten gelesenen Schriftstellern der englischen Literatur. Zwischen 1857 und 1892 verkaufte allein die Londoner Verlagsbuchhandlung Chapman & Hall 700.000 Exemplare seiner Werke. Bereits in seinem "Oliver Twist" prangerte er die gesellschaftlichen Mißstände seiner Zeit an und schaffte es, ein Umdenken der Bevölkerung zu erwirken. Die Veröffentlichung des Romans führte zu politischen Diskussionen über das Armengesetz. Kinderarbeit und Kinderkriminalität wurden erstmals folgewirksam thematisiert. Die soziale Komponente der Dickens'schen Veröffentlichungen wirkte auch auf Erich Engels Epoche machende Schrift "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" (1845), ein grundlegendes Werk der empirischen Sozialforschung.

Mit "David Copperfield" (1849) schuf Dickens einen der wenigen großen Bildungsromane der englischen Literatur. Das Werk ist stark autobiographisch gefärbt - so ist die Figur des Mr. Micawber eine satirische Anspielung auf seinen Vater. Überragendes Talent weist die Darstellung von Stimmungen, Erlebnissen und Gefühlen von Kindern auf - so vor allem die Zeichnung ihrer Demütigungen und Ängste. Der Roman - Dickens' Lieblingsroman - appelliert mit der Kritik an der Missachtung des Kindes, die der Kritik an sozialen Mißständen vorangeht, an das Gewissen der Menschen - mit der Absicht, den Weg für soziale Reformen zu ebnen.

Der zwischen 1860 und 1861 verfasste Roman "Great Expectations" ("Große Erwartungen") - thematisch in vieler Hinsicht dem "David Copperfield" verwandt - ist Dickens' künstlerisches Meisterwerk, in dem sich viele Charakteristika seiner Werke wie scharfe Beobachtungsgabe, psychologisches Feingefühl und soziale Kritik vereinen. Neben der wiederholten Verarbeitung autobiographischer Elemente zeichnet er vor allem ein lebendiges Gemälde der Viktoriansichen Zeit. Kritisiert wird auch das Gentleman-Ideal der von Materialismus und Moralheuchelei geprägten Gesellschaft. Die geradezu surrealistisch anmutende Erzähltechnik kündigt eine Hinwendung zur Moderne an.

"A Christmas Carol in Prose"

Dickens Werk ist Märchen und soziale Anklage gleichzeitig. Quelle seiner Inspiration sind Elemente des deutschen Kunstmärchens und die sozialen Mißstände der frühen industriellen Revolution. Das in den heruntergekommenen Randbezirken der Städte heranwachsende Proletariat muss sich abschuften in übereilt errichteten Fabriken, ohne Arbeitsschutz, ohne feste Lohntarife. Kinderreich, krank, hungernd und unter entsetzlichen sanitären Umständen lebt es in Slums, die überall wuchern. Auf der anderen Seite das Kapital, der Manchesterliberalismus, wie er sich in der Hauptfigur unserer Weihnachtsgeschichte manifestiert:  Scrooge's Verhalten entspricht unverkennbar der Haltung tonangebender Geschäftsleute des zeitgenössischen England. Den Armen, die sie zu solchen machen, werfen sie ihre Armut, ihren Schmutz, ihre Krankheiten als persönlichen Makel vor. Wenn Scrooge äußert, die sterbenden Armen kämen der allgemeinen Volkswirtschaft zugute, die unter Überbevölkerung leide, so sind das keine bösartigen Erfindungen des Dichters. Es sind geläufige Meinungen der Zeit, die er da anprangert. 

Seinen Protagonisten, den an der Börse und im Geschäftsleben erfolgreichen Businessman, dessen Unmenschlichkeit sich nicht nur gegen seine Umwelt richtet, sondern der auch sich selbst nichts gönnt, führt Dickens im Stile des Volksmärchens ein, wenn er sich zur Beschreibung seiner Wesenszüge des Vergleichs bedient:  "Seine innere Kälte ließ seine alten Gesichtszüge erfrieren, .... Rauhreif lag auf seinem Haupt, seinen Augenbrauen und seinem Stoppelkinn. Er trug Eisluft überall mit sich herum, durchkältete damit selbst in den Hundstagen sein Kontor und ließ es auch am Christfest um keinen Grad auftauen." Das Haus, in welchem er wohnt, passt zu seinen Charakterzügen genauso wie das Lebkuchenhaus zur Hexe.

John Bright und Richard Cobden, die zwei wichtigsten Vertreter des Manchesterliberalismus

In dieser poesiefeindlichen und niederträchtigen Umwelt muss sich nun Weihnachten durchsetzen. Der Dichter mobilisiert seine Vorstellung davon. Er entkleidet das Weihnachtsfest seiner metaphysischen und religionsdeterminierten Bezüge und schildert es als Ausdruck von Menschenfreundlichkeit und sozialer Nächstenliebe, von Lebensfreude und innigem Kontakt mit Verwandten, Nachbarn, Kollegen und Untergebenen. Indem er es verweltlicht, feiert er es als zwischenmenschliches Glücksereignis - als bürgerliches Wunder im Alltag.

Um einen dermaßen verstockten, geizigen und geldgierigen Spießer wie Scrooge zum Besseren zu bekehren, bedarf es scharfer Geschütze - und diese prasseln nun auch bald mit voller Wucht auf ihn ein. Zunächst erscheint sein verstorbener Partner Jacob Marley - ein aus einschlägiger Literatur durchaus vertrauter Geist mit  durchsichtigem Körper, rasselnder Kette und schauerlichen Geräuschen. Interessant ist allerdings, woraus die Kette besteht, die er sich im Laufe eines habgierigen Lebens geschmiedet hat: aus Kassetten, Tresorschlüssel, Geschäftsbüchern usw., alles Accessoires einer raffgierigen Kapitalanhäufung. 

Wie aktuell dieses poetische Bild ist, lesen wir jeden Tag in den Zeitungen, hören wir in den Medien, wenn von gewinngierigen Banken, die ungefragt das ihnen anvertraute Geld verspekulieren, die Rede ist, von der Raffgier multinationaler Ölkonzerne, die die Treibstoffpreise nach Beliebigkeit ohne Rücksicht auf Verluste in die Höhe treiben usw. - Was für unseren Scrooge nun folgt, ist eine geschäftliche Abrechnung nach Soll und Haben - bezogen auf soziales Verhalten.

Die Szenen, die ihm der erste Geist, der Geist der vergangenen Weihnacht, zeigt, - Scrooge als Kind, als Lehrling, als junger Liebhaber - lassen den Schluss zu, dass er sich günstig hätte entwickeln können. Er hatte also durchaus die Wahl, sein Leben auf diese oder jene Weise zu gestalten. Die erste Geisterattacke ist somit gegen seine psychische Verkümmerung gerichtet. Der zweite Geist führt ihn durch die gegenwärtige Weihnacht; Scrooge sieht Menschen, die auch unter ärmlichen Bedingungen fröhlich sein können - selbst sein schlecht bezahlter Schreiber Bob Cratchit. Erschüttert muss er feststellen, dass er durch eigenes Verschulden aus diesen Kreisen längst ausgeschlossen ist. Die beiden abgehärmten Kinder, die der Geist unter seinem Umhang hervorholt, sind die Verkörperungen von Mangel und Unwissenheit - Auswüchse des sozialen Elends, wie es durch Unternehmer seines Schlags erzeugt wurde. Angriffspunkt der zweiten Geisterattacke ist die sinnliche und moralische Verkümmerung.

Der dritte Geist ist stumm - er überlässt es dem inzwischen schon empfindlich gewordenen Scrooge, aus Indizien allmählich zu schließen, dass es sich um seine eigene Zukunft handle - genauer: um sein trauriges, einsames, unbeweintes Ableben. Ziel der dritten Geisterattacke ist die Präsentation der vernichtenden Resonanz eines geschäftigen Puritanerlebens. Scrooge bricht zusammen. Beim Aufwachen merkt er, dass er nur einige Stunden geschlafen hat: Was ihm geschah, fand nicht draußen statt, sondern in seinen Träumen. Doch er ist dabei psychisch und sozial genesen - im engen weiten Zeitraum einer halben Nacht, die mehr umfasst hat als ein ganzes Menschenleben.

Was Dickens hier vollführt, ist eine Umkehrung der Erzählweise des Volksmärchens: Der Held macht sich nicht auf, um von zu Hause fortzugehen und in der Ferne sein Glück zu suchen - die Abenteuer suchen ihn vielmehr in  seinen vier Wänden heim. Sie zwingen ihn, sich selbst zu besichtigen: früher, später, anderswo, im Widerhall seiner Umwelt. Dabei spaltet sich seine Person im Traum in Akteur und Beschauer - in bürgerliche Wirklichkeit und humane Möglichkeit. Hier der alte, vereiste Scrooge, der den anderen im Lauf der Geisterträume zu sich, zu seinen altruistischen Möglichkeiten zurückruft.